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Jochen Stenschke: Speicher. Arbeiten auf Papier

ZIF der Universität Bielefeld, 21.9. – 20.10.08


Eröffnungsrede von Christiane Heuwinkel, Kunsthalle Bielefeld


Lassen Sie mich mit einem Werk beginnen, das mir gegenüber an der Schmalseite des Raum, rechts, hängt:
„Gregorteilchen 1 (Moment des Übergangs)“ nennt Jochen Stenschke diese 2002 entstandene, 125 x 180 cm große Zeichnung mit Altöl, Wachskreide und Kohle auf Papier. Und damit entsteht gleich eine Irritation in mehrfacher Hinsicht.

Da ist zum einen die Mischtechnik mit Altöl, einem eher raren Malmaterial. Zum anderen der Titel, der sowohl Assoziationen an Teilchenphysik als auch an Kafkas berühmen Gregor Samsa in der Erzählung „Verwandlung“, also in einem Moment des Übergangs, hervorruft. Und zuletzt ist es die Verkleinerungsform „chen“ im Titel, die erst einmal so gar nicht zu der schieren Größe und Massivität des Bildes „Gregorteilchen 1“ zu passen scheint.

Jochen Stenschke arbeitet mit Widerspruch und Widerstand. So arbeitete er jahrelang mit halbtransparentem PVC, das als Schicht seine Untermalungen und Unterzeichnungen auf dem hölzernen Bildgrund sozusagen „weichzeichnete“ oder nutzte das biegsame PVC für dreidimensionale Modelle endloser Verschlaufungen.

Im Jahr 2000 beginnt er, Altöl als Werkmaterial für sich zu entdecken, nachdem er zuvor bereits mit gesättigtem Leinöl gearbeitet hatte, dessen gelbliche Farbigkeit der der zeitgleich entstehenden PVC-Arbeiten entgegenkommt. Das schwarze Altöl ist ungleich schwerer zu bearbeiten, lässt es sich doch keine linearen Strukturen zu.

Dafür kann der Künstler jetzt mit Masse und Volumen umgehen – und der Eigendynamik des Materials, das in seinem etwa 14tägigen Entwicklungs- und Trocknungsprozess sich weiter ins Papier „hineinfrisst“ und membranartige, zartgraue Höfe entwickelt. Ein Prozess, den der Künstler beobachtet, und in den er eingreift, indem er wachshaltige Kreide und speckige Kohle sozusagen als Bremsen einsetzt, die das Weiterfließen, die von ihm so bezeichneten „Ausfällungen“, stoppen.

In der Zeichnung „Gregorteilchen 1“ beginnt der Künstler, der das Papier auf dem Boden vor sich liegen hat, mit einem Besen gestisch, rhythmisch, das Altöl aufzutragen. Nachdem diese Grundstruktur in einer ovalen Form mit blasenförmigen, amöbenhaften Ausstülpungen getrocknet ist, arbeitet der Künstler mit der nun an der Wand angebrachten Zeichnung weiter, in die er mit Wachskreide eine Art sitzende Figur einfügt, die von einem Kokon umsponnen zu sein scheint.

Die sehr körperhafte Arbeit des Künstlers, der von oben, sozusagen in der Draufsicht, und danach aus der Seitenansicht heraus arbeitet, prägt sich in den Arbeiten als quasi topographische Übersicht, kombiniert mit einem Vertikalschnitt aus.

Den Widerstand und die Eigendynamik, die ihm das Material entgegensetzen, nutzt Jochen Stenschke als Katalysator seines Malprozesses. Ihm geht es nicht um ein irgendwie geartetes Abbild, nicht um eine Dingästhetik, sondern um eine Handlungsästhetik. Die Bewegung, der Rhythmus, das Fließen, bestimmen seine Arbeit, die, wie er sagt, häufig mit einem quasi somnambulen Ertasten des Papiers, seiner Größe und spezifischen Materialqualität beginnt. Und irgendwann im künstlerischen Tun erlebt er diesen Moment der Verwandlung, eines geradezu schockhaften Umkippens, „in einem Nu“.

„In einem Nu“, so der Titel seiner in diesem Jahr im Kerber Verlag erschienenen großen Publikation, verweist auf den Moment des Schocks, der ihn dazu zwingt, den Fluss der Gedanken zu unterbrechen, innezuhalten und alles neu zu denken. So wie „Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“ und sich „in einem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ fand.

Der Mensch als Käfer. Die anthropomorphe Körperlichkeit in der großformatigen Zeichnung „Gregorteilchen 1“, die durch die wie mumifiziert sitzende Figur in der Seitenansicht zum Ausdruck kommt, finden wir in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Arbeiten des Künstlers. So finden wir Ausstülpungen, die an Gliedmaßen denken lassen, Tropfenformen, die auch einen Kopf aufscheinen lassen oder ovaloide Formen, die uns an Amöben, Viren und Bakterien erinnern, so wie viele von Stenschkes Urformen uns sowohl an die Mikrobiologie als auch an kosmische Konstellationen denken lassen.

Die drei Torsi mit den Titeln „Geste des Fliegens“ (1, 4 und 5) rufen Assoziationen an Röntgenaufnahmen hervor, eine sprachliche Festlegung jedoch, die der auratischen Leiblichkeit der Formen nicht gerecht wird, sie auf eine Abbildhaftigkeit und Dinglichkeit reduziert.

Vielleicht sind so die zwei Jahre später, 2006, entstandenen, gleichformatigen Zeichnungen der Werkgruppe „Flow“ als Weiterentwicklung zu verstehen, bei denen der Künstler von Verschlaufungen ausgeht, die an eine Figur im Lotossitz erinnern, jedoch reduzierter und zeichenhafter arbeitet. Der „Flow“, so der Titel dieser Werkgruppe, der Fluss der Arbeit, zeigt sich hier in der allmählichen Entwicklung von einer noch mit Gegenständlichkeit assoziierbaren Formensprache hin zu einer ganz losgelösten, von jeder Abbildhaftigkeit befreiten Bildgeste.

Jochen Stenschkes verknappte Formfindungen wie auch die Kopfform mit in Augenhöhe eingebrachter Rechteckform in seiner Serie „Freitag“ (6, 2001), links neben „Gregorteilchen 1“ gehängt, sind trotz ihrer archaisch anmutenden Grundformen keine leicht entschlüsselbaren Bildcodes. Ganz im Gegenteil: sie widersetzen sich der Entzifferung und Festlegung. Und damit machen sie es uns Betrachterinnen und Betrachtern, sehr geehrte Damen und Herren, nicht leicht. Sind wir doch darauf geeicht, zu entziffern, zu entschlüsseln, zu fixieren, zu verstehen. Nicht aber darauf, etwas geschehen zu lassen, abzuwarten, genau zu beobachten und zu akzeptieren.

Jochen Stenschkes gestischer Malprozess ist keine unkontrollierte, losgelassene Expressivität, keine Farbexplosion, keine große, einsame, heroische Geste wie etwa die der „Drippings“ von Jackson Pollock. Stattdessen wirkt er eher wie eine ruhige, langsam sich verändernde Bahn, die dem Fließen, dem Fluss des Lebens, ähnlich zu sein scheint.

Sein „somnambules Beginnen“, das Aufgeben der Verstandeskontrolle zugunsten des Rhythmus, einer spezifischen Taktung und des Zulassens des Unbewussten, ist die Voraussetzung für Bilder, die Handschrift und Malduktus, Leiblichkeit und innere Erfahrungen speichern. Den physischen Automatismus des gestischen Malens nutzt er zur Gewinnung eines psychischen Automatismus, der es ihm ermöglicht, zu tieferen Schichten des Unbewussten vorzudringen.

Seine „Erinnerungsspeicher“, so der Titel einer weiteren Werkgruppe, sammeln körperliche und geistige Erfahrungen, Gesten, Rhythmen, Strukturen. Dabei finden wir immer wieder den Ausgleich zwischen scheinbar Gegensätzlichem, sei es in der häufigen Kombination von topographischer Aufsicht mit Seitenansicht, den an Mikrokosmos wie Makrokosmos erinnernden „Balancen“ oder der Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit im Bild, von Körperhaftigkeit und losgelöstem auratischen Leib.

Jochen Stenschke, der sich seit vielen Jahren auch mit der asiatischen Philosophie und u. a. des Ausgleichs zwischen Yin und Yang beschäftigt, schafft in seinen Bildmeditationen die Versöhnung scheinbarer Gegensätze hin zu neuen, ungesehenen Bildern, einem, so ein Bildtitel „Reservoir infinite“.


Christiane Heuwinkel, 21.9.08